Wie uns Ameisen den Wert der Sozialwissenschaften verdeutlichen

Wie vermutlich viele Kinder saß auch ich einst fasziniert vor einem Ameisenhaufen und beobachtete die kleinen Tiere bei ihrem Handwerk. Wie Magie schien es mir, dass jeder einzelne kleine Krabbler offenbar genau wusste, was er zu tun hatte und stets den richtigen Weg fand. In den schillerndsten Fantasien malte ich mir aus, wie die Ameisenkönigin in ihrer Zentrale tief unter der Erde alles lenkt und steuert.

Eine Schulkarriere, mit nicht unerheblichen Anteil Biologieunterricht, später, weiß ich natürlich wie naiv derartige Vorstellungen sind. Niemand lenkt die kleinen Kreaturen zentral. Keine Ameisenkönigin und kein »Brainbug« sitzt in einer magischen Schaltzentrale und verschickt Befehle. Die winzigen Wesen lenken sich selbst, in dem sie nur unmittelbar auf Reize und Duftstoffe ihrer Umgebung und ihrer Artgenossen reagieren. Ein solcher simpler Mechanismus gepaart mit maßgeschneiderten Instinkten, die ihnen sagen, wann was bei welchem Duftstoff zu tun ist, reichen aus, um die komplexen Ameisenstaaten zu formen.

Der Mensch als Ameise?

Ist es da bei Menschen großartig anders? Als Autofahrer*in halten wir, auf das Signal einer roten Ampel reagierend, an einer Kreuzung an, ohne, dass uns eine zentrale Verkehrsleitstelle dazu einen Befehl erteilt hätte. Den »Instinkt« für derartiges Verhalten erlernen wir in der Fahrschule. Wir führen ein Leben, dass unserer Umwelt nachweislich schadet und sind uns dessen bewusst. Trotzdem scheinen die »Reize« zu überwiegen, die uns ein derartiges Leben fortführen lassen. Wie eine Ameisenstraße, die der Verlockung eines Honigdufts nicht widerstehen kann und blindlings alle kleinen Arbeiter im Honigglas ertrinken lässt.

Natürlich hinken die Vergleiche zwischen Mensch und Ameise ziemlich. Wir sind keine kleinen biologischen Automaten, die nur nach vorprogrammierten Instinkten funktionieren. Wir können uns bewusst machen, auf welcher Straße wir da gerade unterwegs sind und wir können uns entscheiden, sie zu verlassen. Wir können uns den Reiz oder den »Duftstoff«, dem wir da gerade folgen, sichtbar machen und für falsch befinden. Das alles können Ameisen nicht.

Doch wie machen wir das eigentlich? Die Beweggründe, die wir für bestimmte Handlungen haben, sind zweifelsohne deutlich vielschichtiger, als bei den kleinen Insekten. Sie sind daher auch viel schwieriger aufzuspüren. Die »Ameisenstraßen« unserer Gesellschaft sind meist unsichtbar, wenn man vom Kraftfahrzeugverkehr mal absieht. Ein Beispiel: Warum bekamen in den letzten Jahrzehnten die Menschen in Deutschland viel weniger Kinder, obwohl die ökonomischen Lebensbedingungen augenscheinlich viel besser waren als früher? Warum steigen die Geburtenzahlen nun wieder, obwohl die Lebensbedingungen im Vergleich zu den Jahren mit weniger Geburten nicht viel besser geworden sind?

Sozialwissenschaft macht die »Ameisenstraßen« unserer Gesellschaft sichtbar

Hier kommt die Wissenschaft ins Spiel: Die Psychoanalyse kann uns sagen, warum wir individuell auf diesen oder jenen Reize stärker reagieren und danach handeln, als nach einem Anderen. Sie kann uns die angeborenen und angelernten »Instinkte« bewusst machen. Die Sozialwissenschaft kann uns dann erklären, wie unser eigenes Handeln in gesellschaftliche Strukturen mündet. Wie also unsere »Ameisenstraßen« verlaufen und vielleicht sogar zum Teil, warum sie so verlaufen und nicht anders.

Das ist nicht unwichtig, denn nicht selten verlaufen die Strukturen unserer Gesellschaft ganz anders, als wir uns das wünschen. Um sie versetzen zu können, muss man aber natürlich erst einmal wissen, wo sie sind und warum sie dort sind.

Bei der Geburtenrate hat die Sozialwissenschaft aufgedeckt, dass es eben nicht nur ökonomische Umstände sind, die den Kinderwunsch wecken oder zum Schweigen bringen. Entsprechend erfolglos blieben Versuche mit dem Kindergeld hier irgendein Verhalten zu beeinflussen. Fehlendes Geld war schlicht nicht der richtige »Anreiz« der zu der Kinderarmut führte, sondern allenfalls ein Nebenaspekt.

Nun, da die Politik vom plötzlichen Kinderreichtum aufgeschreckt wird, verdeutlicht dies den Wert der Sozialwissenschaft umso mehr. Die hat nämlich die Ursachen der Familienplanung in einem Geflecht aus Wert- und Lebensvorstellung vermutet, die nun wieder attraktiver werden. Auch ist der Mann, der sich aktiv in Kindererziehung und Haushaltsführung einbringt, weniger negativ stigmatisiert als früher. Das verbessert wiederum die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft bei Frauen, wenn der Mann seinen Teil dazu beisteuert. In der Folge werden vielleicht auch deswegen mehr Kinderwünsche umgesetzt. Genau weiß man das noch nicht, aber zumindest hatte die Sozialwissenschaft schon eine Ahnung, dass die Geburtenzahlen bald wieder steigen könnten.

Der wichtige Blick über den Tellerrand

Man weiß es auch deshalb nicht genau, weil Sozialwissenschaften es nicht einfach haben. Der Untersuchungsgegenstand »Mensch« ist viel Komplexer als beispielsweise ein Elektron, dessen Flugbahn sich im Zweifel genau berechnen lässt und das man in Experimenten verschiedenen Einflüssen aussetzen kann. Bei Menschen geht das nicht. Man kann mit ihnen nicht so einfach experimentieren, allein schon weil sie sich bewusst sein können, dass es sich bloß um ein Experiment handelt. Ergo kommt es häufig zu widersprüchlichen Befunden, die vermutlich ein Teil des schlechten Rufs der Sozialwissenschaften erklären könnten.

Ebenso verlieren manche Unterbereiche der Sozialwissenschaften manchmal aus dem Blick, dass da mehr sein könnte, als sie selbst sehen. Die Politikwissenschaft fokussiert sich auf die Macht in einer Gesellschaft, wie sie verteilt ist und reguliert wird. Die Wirtschaftswissenschaft hingegen betrachtet vorrangig das Geld, seine Verteilung und wohin es fließt. Solche Schwerpunkte können blind machen, wenn es dann doch etwas anderes ist, was die Menschen gerade antreibt genau diese gesellschaftliche Struktur bzw. »Ameisenstraße« zu bilden.

Gerade die aktuelle Wirtschaftswissenschaft hat dabei sogar aus dem Blick verloren, dass sie ein Unterbereich der Sozialwissenschaft ist und ihre Annahme, dass der Mensch immer nach größtmöglichem wirtschaftlichen Nutzen strebe, vielleicht nicht wie ein Naturgesetz immer und überall gilt. Das Beispiel der Geburtenrate und dem Kindergeld sei hier zu nennen.

Wenn gesellschaftliche Strukturen in die Katastrophe führen

Eine kritische und sich stets selbst hinterfragende Sozialwissenschaft ist auch deshalb wichtig, weil eben die Strukturen unserer Gesellschaft in Katastrophen führen können. Bei Ameisen gibt es hierfür ein weiteres Beispiel: die Ameisenmühle. Wird die Ameisenstraße nicht als Strecke zu einem Ziel angelegt, sondern verläuft fälschlicherweise in einem Kreis, kann es passieren, dass sich die Arbeiterameisen in einer endlosen Bewegung zu Tode laufen. Sie sind sich nicht bewusst, dass diese Bewegung nie zu einem Ziel führt, sondern nur in den sicheren Untergang. Sie rennen daher der vorgefundenen Spur unbekümmert nach und verstärken diese sogar, durch das weitere Ausstoßen von Duftstoffen. Schließlich laufen auch alle anderen auf dieser Strecke, also muss sie richtig sein.

Die europäische und insbesondere auch deutsche Geschichte hat eins ums andere mal sehr brutal und blutig bewiesen, dass auch bei Menschen eine derartige Blindheit für gefährliche soziale Strukturen vorkommen kann. Mögen Historiker gern einzelne Persönlichkeiten, wie Hitler oder Napoleon als treibende Kräfte sehen, so kann man erahnen, dass da viel mehr dahinter stecken muss. Schließlich haben diese Persönlichkeiten nie allein einen Krieg oder Völkermord ausgeführt.

Genauso wie keine einzelne Ameise die fatale falsche Duftspur legt, die in einer Ameisenmühle endet, ist es auch kein einzelner Mensch, der soziale Katastrophen wirklich in Gang setzt. Die Sozialwissenschaft kann hier helfen, die Strukturen sichtbar zu machen, die uns in eine fatale »Menschenmühle« führen könnten. Das hilft auch Verschwörungstheorien zu entlarven, die hinter den Strukturen allmächtige Strippenzieher vermuten, die die Menschheit zentral lenken. Denn nur, weil sich gesellschaftliche Strukturen gebildet haben von denen manche profitieren, heißt das nicht automatisch, dass sie zuvor irgendwer so geplant oder in Verschwörungen ersonnen hat. Ebenso wenig, wie eine Ameisenstraße zuvor geplant wird.

Es kann also nicht schaden die Sozialwissenschaft, trotz ihrer augenscheinlich häufigen Widersprüchlichkeit, etwas ernster zu nehmen. Sie kann uns helfen, die Auswirkungen unseres eigenen Handelns in der Zusammenwirkung mit den Handlungen unserer Mitmenschen, zu sehen. Ob wir diese Auswirkungen dann gut oder schlecht finden sollten, ist aber wieder eine andere und seit jeher hoch umstrittene Frage.

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